Dokumentation der WIR – Fachtagung „Auf die Plätze – Chancen – los?“ am 12. und 13. September 2024 in der Akademie Waldschlösschen.
Wieder bis auf den letzten Platz ausgebucht war die diesjährige WIR – Fachtagung am 12./13.09.2024, zu der die Kolleg*innen des WIR-Teams aus dem Netzwerk „AZG – Arbeitsmarktzugang für Geflüchtete“ beim Flüchtlingsrat Niedersachsen eingeladen hatten. Unter dem Motto „Auf die Plätze – Chancen – los?“ ließen sich 50 WIR- Projektmitarbeiter*innen aus ganz Deutschland von Barbara Weise (Caritas OS) auf den neuesten Stand hinsichtlich des Spurwechsels und von Kristian Garthus-Niegel (Sächsischer Flüchtlingsrat) hinsichtlich des Chancenaufenthaltsrechts bringen. Im regen Fachaustausch wurden Probleme bei der Umsetzung und Hürden im Arbeitsmarktzugang identifiziert, sowie Lösungsansätze erarbeitet. Außerdem nutzten die Kolleg*innen die Inputs von Dave Schmidtke (Sächsischer Flüchtlingsrat) und Janka Schubart (Kampagne #bleibstabil), um angesichts der massiven Diskursverschiebung nach rechts sowie den Angriffen auf die Rechte Geflüchteter über Hintergründe und Genese des autoritären shifts sowie solidarische Handlungsansätze zu diskutieren. Nach zwei Tagen voller informativer Vorträge und anregender Debatten gingen die Teilnehmenden inspiriert mit einem „Bis zum nächsten Mal“ auseinander.
In einem Grundlagenreferat der diesjährigen WIR-Fachtagung präsentierte Barbara Weiser eine fakten- und kenntnisreiche Darstellung der jüngsten Gesetzesänderungen von Änderungen von der Ausbildungsaufenthaltserlaubnis über die Beschäftigungsduldung bis zum sog. „Spurwechsel“, und schließlich wurden auch Aufenthaltsperspektiven für aus der Ukraine geflüchtete Menschen jenseits des Aufenthalts nach § 24 AufenthG dargestellt. Eine rege Diskussion und intensive Nachfragen im Plenum machten deutlich, dass die Kolleg*innen in der täglichen Arbeit in diesem Zusammenhang beachtlich hohen Handlungs- und Klärungsbedarf sehen. Deutlich wurden auch massiven Unterschiede in der Anwendungspraxis des Aufenthaltsrechts je nach Ausländerbehörde (z.B. im Hinblick auf deren Hinweis- und Anstoßpflicht, aber auch der Dauer der Bearbeitung von Anträgen). Eine anschließende AG-Phase nutzten die Kolleg*innen Erfahrungen für den Austausch über immer wieder auftretende Problemlagen und Lösungsansätze aus dem Beratungsalltag. Notizen aus ihrem Vortrag finden sich unten.
In einem zweiten Input am Eröffnungstag beleuchtete Kristian Garthus-Niegel die Entwicklungen rund um das Chancen-Aufenthaltsrecht und den § 104c AufenthG. Neben der großen Anzahl von Menschen, die von dieser Regelung profitieren könnten, wurde deutlich, dass vor allem Hürden bei der Lebensunterhaltssicherung, der Passbeschaffung, den Deutschkenntnissen sowie dem Bekenntnis zur FDGO zu überwinden sind und hier – neben den Klient*innen selbst – vor allem Jobcenter und ABH’en gefordert sind. Viele Aspekte aus dem Beratungsalltag, die in der folgenden AG zur Sprache kamen und im Plenum ausgetauscht wurden, werden die Kolleg*innen aus den bundesweiten Arbeitsgruppen mit in den dortigen Austausch nehmen. Notizen aus seinem Vortrag finden sich unten.
Dieser informative und an kollegialem Austausch reiche Donnerstag schloss – je nach Tisch – bei Gesellschaftsspielen oder in diskutierfreudiger Runde.
Den Auftakt am Freitag machte Dave Schmidtke [Foto, pdf] vom Sächsischen Flüchtlingsrat, der das Publikum mit auf die Reise an die Anfänge der derzeitigen Gesetzesverschärfungen im Asylrecht nahm: nach Brüssel in das Jahr 2013. Damals nämlich wurde die GEAS-Reform, also die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylrechtssystems, angestoßen, dessen Umsetzung wir heute gewahr werden. Im Zuge der eingeführten Grenzkontrollen häufen sich auch in Sachsen die pushbacks an der Grenze zu Polen und Tschechien. Hier gäbe es zwar aktive Unterstützungsstrukturen, die diese gesetzeswidrige Praxis dokumentieren und Betroffenen konkrete Hilfe anbieten, diese seien aber massiv von der Hilfe der Öffentlichkeit angewiesen. Schmidtke wies zudem auf einen Widerspruch in der Analyse der rassistischen Ausgrenzung hin, der wir immer wieder anheim fallen. So gälte die rassistische Anfeindung nicht im Allgemeinen „den Geflüchteten“, denn gegenüber Geflüchteten Ukrainer*innen äußert sich diese ja ganz anders, als gegenüber rassifizierten People of Color oder als Moslems Identifizierten.
Janka Schubart , die wir digital von Lesbos, also einem der Hotspots der Europäischen Grenzsicherung und einem der Pilotprojekte der GEAS-Reform, dazu schalten konnten, nahm uns angesichts der menschenunwürdigen griechischen Grenzpolitik mit in Sphären solidarischen Handelns. Hier ihre Inputfolien. Am Beispiel der bundesweiten Kampagne #bleibstabil schilderte sie die Strahlkraft dezentraler, solidarischer Handlungsansätze vor Ort, den Effekt von neu geschaffenen oder sich erkennbar zeigenden solidarischen Orten des Zusammenkommens.
Dabei konkretisierte Janka Schubart ihren Vorredner Schmidtke, der vom sich verstärkenden „braunen Geist […] frustrierter Männer […] zwischen den Landtagswahlen“ sprach, dahingehend, dass oftmals zermürbende Erfahrungen vieler Ostdeutscher bei der letzten großen Transformation 1989/90 Auslöser autoritärer Reflexe sind. Und sie betont, dass die Themen Klima, Rente, Gesundheitswesen und auch Migration allen vor Augen führen, dass wir gesamtgesellschaftlich wieder vor einer Transformation stehen. Diesmal nicht wieder als Verlierer hervor zu gehen, ließe viele rechten Demagogen hinterher laufen. Daraus ergäbe sich, so Schubart, auch die Aufgabe der Zeit: Das Gute Leben für alle zu erstreiten und dabei Zuversicht und Freude an solidarischer Praxis zu vermitteln und so der Spaltung der Gesellschaft von rechts etwas entgegen setzen. Denn anders als im Titel suggeriert, müsse es nicht heißen: „Was tun gegen Rechts?“, sondern: „Was tun für uns alle?“. Denn während die Rechte (behauptete) Krisenphänomene wie innere Sicherheit, Krankenversorgung, Wohnungsmangel her nimmt und durch „Remigration“ zu lösen meint, gälte es für den solidarischen Teil der Gesellschaft, diese Herausforderungen anzunehmen und Antworten jenseits von Spaltung und Hass zu finden. Natürlich, so Schubart, sei es dabei wichtig, die Brandmauer zu festigen und den Kooperationsausschluss noch in jedem Kommunalparlament durchzusetzen. Doch ebenso wichtig sei es, den öffentlichen Raum und den darin vorherrschenden Diskurs zurück zu erobern und dabei Räume der Solidarität vor Ort an zu bieten. Hinsichtlich zukünftiger Protestformen erinnerte Schubart zudem an die Streiks in den späten 60er und 70er Jahren, die wesentlich von Arbeitsmigrant*innen getragen waren. Neben der Arbeit im Alltag sind es diese Kampferfahrungen, an die derzeit anzuknüpfen sei.
Notizen aus dem Panel „zum „Spurwechsel“ von Barbara Weiser.
Barbara Weiser erklärt zunächst die grundsätzlichen Prinzipien im Aufenthaltsgesetz und welche Hürden einem „Spurwechsel“ ggf. entgegen stehen. So bestehe hinsichtlich der Lebnsunterhaltssicherung (LUS) das Problem, dass bei einem Aufenthalt für die Arbeits- und Ausbildungsplatzsuche kein Anspruch auf Bürgergeld bestehe. Und auch bei einer Aufenthaltserlaubnis nach § 16g (bei Abbruch der Ausbildung und wenn kein Anspruch auf ALG I erarbeitet wurde) bestehe keine Krankenversicherung. Hinsichtlich der Höhe des notwendigen Betrages zur Lebensunterhaltssicherung bei einer Aufenthaltserlaubnis nach § 16g Abs. 8 AufenthG im Anschluss an die abgeschlossene Ausbildung könnte man sich auf §2 Abs. 3 berufen, nach dem die Grenze bei 736,-/Monat gilt.
Kontrovers diskutiert wurde die Frage, ob laut Gesetzestext ein Aufenthaltstitel nach § 16g AufenthG möglich ist, obgleich man sich noch im Asylverfahren befindet. Da es einen Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis nach § 16g AufenthG müsste dies möglich sein.
Zum Thema „Spurwechsel“ bewegte viele, wie angesichts der Kann-Regelung nach Aufenthaltstitel gem. § 19c Abs. 2 die Ausländerbehörde dazu bewegt werden kann, dass sie vor Rücknahme eines Asylantrags eine Zusicherung macht, zwischenzeitlich keine Abschiebung vorzubereiten.
Barbara Weiser wies darauf hin, dass man grundsätzlich auch mehrere Aufenthaltstitel haben kann. Das bedeutet u.a., dass ukrainische Geflüchtete mit einem Aufenthaltstitel nach § 24 bzw. einer Fiktionsbescheinigung zusätzlich eine AE erteilt werden wie z.B. für Pflegehilfskräfte nach § 19c Abs. 1. Weitere Möglichkeiten wären u.a. auch die Möglichkeit einer Aufenthaltserlaubnis für eine Anerkennungspartnerschaft nach § 16d Abs. 3 oder die AE für den Besuch eines Sprachkurses nach §16f, bei dem dann zusätzlich eine Beschäftigung für bis zu 20 Stunden und also die Lebensunterhaltssicherung möglich wäre.
Es wurde festgestellt, dass die Betroffenen nach Ablehnung des Asylantrages oftmals zu spät in die Beratung kommen.
Bei der Beratung bzgl. Spurwechsel wurde festgestellt, dass es viel Fachkenntnis über Berufsqualifikationen erfordert, um dazu zuverlässig beraten zu können.
Bei der Ausbildungsaufenthaltserlaubnis nach § 16g AufenthG war umstritten, ob die gesamte Bedarfsgemeinschaft berücksichtigt werden muss. Für 16g ist grundsätzlich geregelt, dass der Betrag von 736,-/Monat, wie im Bundesanzeiger veröffentlicht, zur Grundlage genommen wird.
Notizen aus dem Panel „zum „Chancenaufenthaltsrecht“ von Kristian Garthus-Niegel.
Kristian Garthus-Niegel erinnerte in seinem Vortrag über das Chancenaufenthaltsrecht daran, dass dieses 2022 noch Kind einer Debatte um einen an Menschenrechten orientierten Paradigmenwechsel in der Flüchtlingspolitik war. Neben positive Änderung (alle Asylsuchenden sollten im Rahmen freier Kursplätze an Integrationskursen teilnehmen können und der Familiennachzug sollte bei bestimmten Aufenthaltstiteln vereinfacht werden) war insbesondere das Chancenaufenthaltsrecht ein Leuchtturm dieses „Paradigmenwechsels“. 248.149 Geduldete zu jenem Zeitpunkt schreien nach Veränderung. Damals hieß es, wer sich am 31.10.2022 seit fünf Jahren in Deutschland aufgehalten hatte bekam auf Antrag für 18 Monate Zeit, um die Voraussetzungen für §§ 25a/b zu erfüllen. Und auch wenn Verbände eine weitreichendere Regelung z.B. ohne Stichtag forderten, so machte diese Regelung doch vielen Betroffenen Hoffnung..
Die Besonderheit am Chancenaufenthaltsrecht bestand darin, dass manche allgemeine Erteilungsvoraussetzungen nicht gelten (Passvorlage, Lebensunterhaltssicherung und Einreise mit Visum). Mit dem Chancenaufenthaltsrecht entfiel ein eventuelles Arbeitsverbot. Einen Aufenthaltstitel nach § 25a konnte man nach einer Reform bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres bekommen, allerdings benötigt man zwölf Monate Vorduldungszeit, wenn man nicht aus dem Chancenaufenthaltsrecht kommt. Bei einem AE nach § 25b konnte zudem aus Krankheitsgründen von der überwiegenden Lebensunterhaltssicherung abgesehen werden.
Die Bundesregierung hatte die Prognose gestellt, dass 98.000 Anträge auf Erteilung des § 104c gestellt werden. Die durchschnittliche Erteilungsquote liegt derzeit, so Garthus-Niegel, bei 85%. Der häufigste Ablehnungsgrund besteht in Straftaten und fehlenden Vorduldungszeiten. Viele Inhaber*innen kommen aktuell in die Übergangsphase. Bisher, so Garthus-Niegel, gab es 2.894 erfolgreiche Übergänge. Die tatsächlichen Duldungszahlen sind seit der Einführung des Chancenaufenthaltsrechts gesunken, was aber nur zu einem geringen Teil auf den §104 c zurück zu führen sei .
Kristian Garthus-Niegel identifiziert drei große Hürden beim Übergang von der AE nach § 104c in die des AE nach § 25a/b:
1. A2 und Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung (GRG) sind schwer zu schaffen. Es sind zu wenige Kapazitäten für Integrations- und Sprachkurse da. Analphabet*innen und alleinerziehende Frauen haben es besonders schwer. Bei § 25b gibt es zudem bei den Grundkenntnissen keine Ausnahmeregelung (Lernbeeinträchtigung, Krankheit, etc.).
2. Die (überwiegende) Lebensunterhaltssicherung ist nicht leicht zu erreichen, weil nur die eigene Erwerbstätigkeit berücksichtigt wird. Kindergeld, Wohngeld, Verpflichtungserklärung, etc. zählen nicht.
3. Die Klärung von Identität bzw. Passvorlage kann im Einzelfall länger als 18 Monate dauern.
Garthus-Niegel wies abschließend darauf hin, dass man den Antrag auf Erteilung der AE nach § 25a/b in den laufenden 18 Monaten stellt, weil die Antragstellenden dann eine Fiktionsbescheinigung erhalten, die über die 18 Montag hinausreichen kann. Auch der NRW-Erlass sieht diese Möglichkeit vor. Die Anwendungshinweise vom BMI legen den Ausländerbehörden bundesweit, nahe mit Beratungsstellen, und explizit den WIR-Netzwerk-Partner*innen zu kooperieren.
Die Folien zum Vortrag haben wir Ihnen hier verlinkt.
Die Empfehlungen zum erfolgreichen Übergang vom Chancenaufenthaltsrecht in ein dauerhaftes Bleiberecht aus der bundesweiten AG aus dem WIR-Netzwerk zum Thema finden Sie hier.
In einem dazugehörigen Fallkompendium werden an Beispielen die Problemlagen anschaulich skizziert.